Die in der Standardsprache gebräuchliche Passivform wird im Deutschen mit dem Hilfsverb werden und dem Partizip II (z. B. geschnitten) gebildet: „Ihr werden die Haare/Spitzen geschnitten.“ (rot in der Karte). Das Passiv rückt nicht die Person in den Mittelpunkt, die etwas tut, sondern die Person oder den Gegenstand, der davon betroffen ist. Hier geht es nicht um den/die Friseur:in, sondern um die Haare, die geschnitten werden.
Eine ebenfalls in der Standardsprache gebräuchliche Variante ist das bekommen-Passiv (auch Dativpassiv), das mit dem Hilfsverb bekommen gebildet wird: „Sie bekommt die Haare/Spitzen geschnitten.“ (blau). Das bekommen-Passiv wird häufig genutzt, wenn eine Person eine Handlung des Gebens, Nehmens, Mitteilens oder Verbergens erfährt – also in Situationen, in denen sie etwas empfängt, besitzt oder davon profitiert. Die Besonderheit liegt in der Satzstruktur: Im Aktivsatz Der/die Friseur:in schneidet ihr die Haare/Spitzen. steht ihr im Dativ. Im bekommen-Passiv wird daraus das Subjekt des Satzes: Sie bekommt die Haare/Spitzen geschnitten. (ihr wird also zu sie). Somit steht in dieser Variante die Person, die den Haarschnitt erhält, besonders im Mittelpunkt.
Umgangssprachlich wird anstelle von bekommen auch kriegen verwendet: „Sie kriegt die Haare/Spitzen geschnitten.“ (in der Karte gelb).
Aus anderen sprachwissenschaftlichen Untersuchungen weiß man bereits, dass die Kernregionen des bekommen-/kriegen-Passivs im Mittelfränkischen (zu dem das Ripuarische zählt) sowie im angrenzenden Niederfränkischen liegen. Dies zeigt auch unsere PALAVA-Karte: Im Süden und Westen von NRW, von Aachen über Köln bis ins Siegerland, am Niederrhein, über Düsseldorf bis hin zu Teilen des Ruhrgebiets südlich von Essen, finden sich besonders viele Meldungen von bekommen und kriegen. Aber auch nördlich dieses Gebiets kommen die Varianten vor. Man kann daher von einer Verbreitung des Dativpassivs in angrenzende Sprachgebiete ausgehen.
Umgekehrt wird auf der PALAVA-Sprachkarte sichtbar, dass das Standard-Passiv (rot) im Süden und Westen von NRW zugunsten des bekommen-Passivs (blau) und der Variante mit kriegen (gelb) seltener verwendet wird.
Das bekommen-/kriegen-Passiv veranschaulicht, wie sich grammatische Strukturen regional entwickeln und verbreiten können.
Literatur:
Duden. Die Grammatik. Unentbehrlich für richtiges Deutsch. (= Duden Band 4). 7., völlig neu erarbeitete und erweiterte Auflage. Mannheim u. a. 2005.
Duden. Das Passiv mit „bekommen“. Abgerufen am 05.02.2025.
Alexandra N. Lenz: Vom >kriegen< und >bekommen<. Kognitiv-semantische, variationslinguistische und sprachgeschichtliche Perspektiven. In: Susanne Günthner/Klaus-Peter Konerding/Wolf-Andreas Liebert/Thorsten Roelcke (Hrsg.): Linguistik. Impulse & Tendenzen (53). Berlin/New York: De Gruyter 2013.