Der Satz Sie kriegt die Haare geschnitten zeigt nicht nur eine grammatische Besonderheit (siehe die Karte zum Passiv hier in der App), sondern auch regionale Unterschiede in der Aussprache des Wortes kriegt: Das g wird je nach Region unterschiedlich ausgesprochen.
In der Standardaussprache kriegt wird das g als stimmloser k-Laut ausgesprochen (gelb in der Karte). Diese Variante ist in ganz Deutschland verbreitet. Auch in Nordrhein-Westfalen ist sie häufig zu hören, wie unsere Karte zeigt.
Daneben gibt es die Aussprache kricht (in der Karte rosa). Dieses Phänomen wird als Spirantisierung bezeichnet - ein Lautwandel, bei dem das g zu einem ch-Laut wird (mit gekürztem Vokal i). Diese Aussprache ist typisch für den Norden und die Mitte Deutschlands und kommt auch in großen Teilen Nordrhein-Westfalens vor. In der PALAVA-Umfrage ist kricht sogar die häufigste Aussprachevariante. Im Rheinland kommt sie allerdings deutlich seltener vor als in Westfalen, im Ruhrgebiet, im Bergischen Land oder am Niederrhein. Sprachwissenschaftliche Untersuchungen bestätigen, was auch die PALAVA-Karte zeigt: Die Spirantisierung hat sich in diesen Regionen und ganz Norddeutschland bis heute im Regiolekt erhalten. Das ist besonders bemerkenswert, weil sich viele andere regionale Sprachmerkmale mittlerweile an die Standardsprache angeglichen haben.
Im Rheinland hört man häufig krischt (grün), eine Aussprache, die für viele Nicht-Rheinländer:innen als typisch rheinisch gilt. Dahinter steckt ein weiterer regionaler Lautwandel, die sogenannte Koronalisierung, die im 19. Jahrhundert begann und sich bis zur Wende des 20. Jahrhunderts verbreitete. Dabei verändert sich der ch-Laut zu einem Laut zwischen ch und sch, der manchmal genau wie das hochdeutsche sch klingt. Die PALAVA-Sprachkarte zeigt, dass krischt vor allem im südlichen Rheinland verbreitet ist, bis hin zur Grenze von Rheinland-Pfalz. Im Westen reicht das Gebiet bis zum Kreis Heinsberg, im Norden bis zum Niederrhein. Im Bergischen Land nimmt die Koronalisierung von Westen nach Osten ab. Diese regionale Verteilung stimmt mit Ergebnissen früherer sprachwissenschaftlicher Untersuchungen überein: Die Koronalisierung ist nicht nur auf das Rheinland beschränkt (noch weiter südlich in Rheinland-Pfalz und im Saarland ist sie sogar noch viel ausgeprägter), und auch dort sprechen nicht alle Menschen Wörter wie kriegt immer auf dieselbe Weise aus.
Obwohl das im Rheinland ebenfalls besonders häufige kriegt mit stimmlosem k auf den ersten Blick wie die Standardaussprache des Wortes wirkt, lässt sich diese Aussprache dort auch als eine lokale Reaktion auf die Koronalisierung interpretieren: In einer Region, in der krischt weit verbreitet ist, könnte kriegt teils eine Abgrenzungsfunktion erfüllen - oft bewusst an der Schreibweise „kriegt“ orientiert, teils auch weil der ch-Laut nicht von allen Sprecher:innen gebildet oder überhaupt wahrgenommen werden kann. Im Norden Nordrhein-Westfalens ist diese Tendenz hingegen weniger stark ausgeprägt.
Neben den regionalen Varianten gibt es auch dialektale Formen wie kritt (blau), die in vielen rheinischen Ortsdialekten verbreitet sind. Im Siegerland hört man sogar kriet (rot) mit einem retroflexen r-Laut, der dem englischen r-Laut ähnelt. Diese Form dürfte außerhalb dieser Region weitgehend unbekannt sein.
Literatur:
AdA = Atlas zur deutschen Alltagssprache. Herausgegeben von Stephan Elspaß/Robert Möller. 2003–. [URL: www.atlas-alltagssprache.de].
Michael Elmentaler: Varietätendynamik in Norddeutschland. In: Sociolinguistica 22, 2008, S. 66-86.
Joachim Herrgen: Koronalisierung und Hyperkorrektion. Das palatale Allophon des /ch/-Phonems und seine Variation im Westmitteldeutschen (Mainzer Studien zur Sprach- und Volksforschung, 9). Stuttgart 1986.
Stefan Kleiner: Zur Aussprache von nebentonigem -ig im deutschen Gebrauchsstandard. In: Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik 77, 2010, S. 259–303.
Sarah Nagel: Koronalisierung: Ein bekanntes Phänomen mit unbekanntem Namen. Wenn isch spresche ... In: Alltag im Rheinland 2013, S. 83-88.